Eine Krise auf dem Weg zum freien Miteinander

von Feb 8, 2021Uncategorized0 Kommentare

Ich lese Beiträge, ich versuche, so unvoreingenommen wie möglich, anderen zuzuhören, und ich mache mir meine Gedanken. Ich bekomme immer wieder Rückmeldungen, in denen mir gesagt wird, dass meine Versuche, auf aktuelle Themen Blickwinkel zu formulieren, zu kompliziert und zu lange, zu komplex und damit zu kompliziert seien, als dass Menschen, die bereits hochgradig angespannt sind und zu wenig Zeit haben, diese lesen oder gar verstehen würden.

Was soll das bedeuten?

Es sind doch die Vereinfachungen, die uns an diesen Punkt unserer Geschichte geführt haben, an dem alles auf ein kleines Virus geschoben werden kann oder auf eine böse Elite, die im Hintergrund der Geschehnisse ihre Fäden zieht, oder eine unfähige, rücksichtslose Regierung, die alle Bedürfnisse der Menschen mit ihren Maßnahmen überrollt, oder eine wohlmeinende PolitikerInnengarde, die doch nur ihr Bestes versucht, uns alle zu retten. Einfache Meinungen, einfache Weltbilder, alles ganz klar, oder?

Wer wagt es noch, sich selbst in einer ehrlichen Auseinandersetzung mit Menschen, die anderen Wahrnehmungen Bedeutung zukommen lassen und damit anders denken und fühlen, in Frage stellen zu lassen ohne darauf gleichsam reflexartig mit „berechtigter“ Entrüstung über die Dummheit der anderen, die Unvollständigkeit ihrer Meinungen zu reagieren oder gar in “ gerechten Zorn“ auszubrechen über die Unverantwortlichkeit der daraus sich ergebenden Entscheidungen derselben?

Es gibt ein altes griechisches Wort für diese Haltung „Hybris“. Man meint damit die Eigenart einer Person, die den Bezug zur Realität verloren hat und in extremer Selbstüberschätzung, die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen stark überhöht. Das deutsche Wort dafür ist Hochmut. Das Traurige an der derzeit vorherrschenden Haltung einer Vielzahl, ich vermute einmal Mehrzahl der Menschen, ist, dass diese aus einer Position großer Schwäche, Verwirrung, Orientierungslosigkeit und Überforderung sich einen rettenden Strohhalm aus diesem Hochmut basteln. Denn wenn ICH weiß, wie der Hase läuft, dann darf ich mich wieder sicher fühlen, dann wäre doch alles unter Kontrolle, wenn die Entscheidungen nur aufgrund dessen getroffen würden, was ich mir als Meinung erwählt habe.

Die Frage, aus welchen „Bestandteilen“ ich zu ebendieser Meinung gekommen bin, stellt sich dann nicht mehr, ebensowenig wie die Frage, ob nicht anderen Meinungen ebensolche Berechtigung zukäme, wie der meinen und auch nicht, ob es Sinn machen würde, möglichst viele dieser Meinungen zusammenzutragen, deren Vertreter an einen Tisch zu setzen, an welchem dann alle Aspekte zum Ausdruck gebracht, ehrlich und unvoreingenommen überprüft würden von Herz und Hirn, um zu gemeinsamen Entscheidungen zu kommen, die uns als Menschheit einen Schritt weiterbrächten. So wie wir uns derzeit verhalten, schwächen wir uns gegenseitig immer mehr, greifen gezwungenermaßen zu unterschiedlichen Formen von Kompensationsstrategien, verschließen uns voreinander und machen die jeweils anderen zu Bedrohungen und Feinden.

Dieses kleine Virus, das uns zwar krank zu machen imstande ist, manche sogar, die ausreichend geschwächt sind oder keine Antworten auf die Herausforderung, die seine Anwesenheit bedeutet, zu finden imstande sind, kann es sogar töten. Doch der Ist-Zustand unserer Gesellschaften, der sich im Angesicht der Herausforderung dieses kleinen Dings zeigt, ist bei weitem bedrohlicher und sollte entsprechend ernst genommen werden.

Es ist ein Zustand, in welchem die Menschen unfähig sind, einander wertschätzend und respektvoll zu begegnen, ein Zustand in dem die persönlichen Anspannungen derart hoch sind, dass alles, was über das Niveau von Kinderbüchern hinausgeht – siehe Babyelefant – einer Überforderung gleichkommt, die mit oben erwähnten Kompensationsstrategien – von denen es neben der Überheblichkeit noch viele andere gibt, Rückzug, Ignoranz, Beschimpfung, Depression, Denunziation, physische Gewalt, Zensur, … – beantwortet werden muss.

Wir erleben gerade eine Welt, in welcher sich Menschen als ziemlich hilflose, ja geradezu kindliche Wesen zu demaskieren begonnen haben, eine Welt, in der uns kaum mehr Anderes einfällt, als nach noch drastischeren Maßnahmen zu rufen, sei dies nun ein totaler Lockdown, oder das Absetzen ganzer Regierungen, eine Welt, in welcher alle hohen Ideale von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit/Schwesterlichkeit, oder das Wahre, das Schöne und das Gute beinahe ohne jeder Regung auf dem Altar dessen geopfert werden, was wir unter Sicherheit zu verstehen meinen.

In solch einer Welt möchte ich nicht leben, möchte ich nicht, dass meine Kinder und Enkelkinder leben müssen, in der Menschen in Krankenhäusern oder Altenheimen, alleine sterben, in der Kinder mit verhüllten Gesichtern ängstlich auf ein Testergebnis warten müssen, das ihnen bescheinigt, dass sie zumindest auf Abstand miteinander in Kontakt treten dürfen – welch eine Verhöhnung des Wortes, das „Berührung“ und „Verbindung“ zum Ausdruck bringen sollte. Diese Welt, die wir selbst erschaffen haben, steuert gerade einer hochgradigen Verfestigung von Entfremdung, einer Armut an Mitgefühl, einer Polarisierung von Ausmaßen, die brügerkriegsähnlichen Zuständen vorausgehen, an kalter, büro- und technokratischen Verwaltungsapparaten entgegen, die dem Menschlichen keinen Platz mehr bieten.

Nun gilt es, dieses „möchte ich nicht“ zu verwandeln in eine Absicht, in konstruktive Entscheidungen, die einem Weltgestalten sich als würdig erweisen, das getragen ist von Verbundenheit zu mir selbst, zu anderen Menschen und zu all den Lebensreichen, mit denen wir diese Welt teilen. Es geht darum, gewahr zu werden, was es bedeutet, ein erwachsener, das heißt freier, eigenverantwortlicher, emotional, mental, sozial und spirituell kompetenter Mensch zu sein und die eigenen Schritte auf einem Weg dahin so zu setzen, dass ich diesen Menschen in mir finde und ihn entsprechend in meinem Wirken zum Ausdruck bringe.

Dazu heißt es zuallererst, die Bedeutung all jener Attribute eines „erwachsenen Menschen“ zu erforschen, welche innerhalb unserer Lebensspanne zumeist von anderen definiert wurden. Um nur ein Beispiel zu nennen, heißt Verantwortung derzeit, unseren Kindern, deren Schutz uns anvertraut wurde, in Situationen zu bringen, in welchen sie, ohne selbstätig daran etwas ändern zu können, zweimal pro Woche der psychischen Belastung ausgesetzt werden, bei einem positiven C-Test aus der sozialen Verbundenheit als mögliche GefährderInnen herauszufallen. Was hat das mit Schutz und was mit Verantwortung zu tun?

Unsere Köpfe und Herzen sind voll von fremdem, von anderen übernommenem Wissen und Glauben. Wir glauben zu wissen, was Freiheit ist und halten es für die Möglichkeit, überall hin auf Urlaub fliegen oder uns die nächste Handygeneration leisten zu können. Wir halten es für Verantwortung, unsere Rechnungen zu bezahlen und brav dem Folge zu leisten, was uns von jeweils höherer Stelle aufgetragen wird. Wir meinen, es sei Spiritualität, wenn wir sonntags in die Kirche gehen und nichts von dem Gehörten in unser Alltagsleben integrieren. Wie könnte es sonst möglich sein, dass wir eine sich als christlich bezeichnende Partei akzeptieren oder gar unterstützen, die Menschen in unwürdigen Umständen in etwas, das nicht einmal den Namen Flüchtlingslager verdient, elendiglich verrecken lässt? Wir halten es für emotionale Kompetenz, wenn wir unsere Gefühle unterdrücken bis sie entweder zu innerlichen Geschwüren werden oder sich in gewalttätigen Entladungen, andere demütigender Sprech- oder Handlungsweisen einen Ausdruck verschaffen. Wir glauben, es sei ein Zeichen von Intelligenz, die Meinungen, die wir aus allen mögllichen Medien gefüttert bekommen, solange zu wiederholen, bis wir sie für unsere eigenen halten.

Der erste Schritt bestünde, meines Erachtens, in einem Innehalten, einem zu sich selbst Kommen und einem Überprüfen der eigenen, geistigen Freiheit, die es uns möglich machen könnte, wieder zu erkennen, was uns im eigentlichen Sinne des Wortes fehlt. Denn all dieses Fehlen persönlicher Kompetenzen, welche die eigentlichen Wurzeln all unserer Ängste sind, die wir bis dato noch mehr oder weniger geschickt zu verschleiern suchen hinter all diesen zusammengeschusterten Hypothesen darüber, was derzeit angeblich wichtig und richtig ist, würde es vermögen, uns auf die Suche zu machen nach derem Erringen. Wir würden erkennen, dass wir einander ganz dringend dafür bräuchten. Denn jede/r von uns hat Kompetenzen unterschiedlicher Natur bereits entwickelt und könnte uns dafür LehreIn und BegleiterIn sein. Und weil es dabei um Lebenskompetenzen geht, deren jede/r bedarf, erübrigt sich das System der ExpertInnen, der SpezialistInnen, denen wir die Verantwortung für die jeweiligen Lebensbereiche übergeben, mit denen wir dann allerdings kaum mehr Überschneidungen haben können, da sie gezwungen sind, in einer eingeschränkten Welt zu leben, wo nur Viren, oder Himmelskörper, Computerprogramme, oder Kindererziehung, Ackerbau, oder Wasserinstallation eine Rolle spielen.

Das Gemeinsame, das sich bis hierher mehr ins Einsame entwickelt hat, hätte dann eine Möglichkeit wieder in einen lebendigen Raum einzutreten, in dem wir uns bewusst werden, dass wir in EINER Welt mit vielen Gesichtern leben, die alle miteinander verwoben sind und Berechtigung haben, deren Verbindung es nur zu erkennen gilt. Und das Verbindende sind wir, die wir als Menschen offenbar fähig sind, eine derartige Vielfalt von Standpunkten, Anschauungen und Realitäten wahrzunehmen, die doch alle nur auf der einen fußen, in der wir gemeinsam leben. In dieser Welt ist das Gegeneinander dann ein Teil des Miteinanders, weil wir Mittel gefunden haben werden, mit deren Hilfe die Herausforderung des Konflikte bergenden anders Seins zu einem bereichernden Wachstum führen kann, welches nicht mehr beziffert werden muss.

Dafür wünsche ich uns das Allerbeste

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken